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Medizingeschichte
Überflüssig oder nützlich: Hat der Blinddarm eine Funktion?

Überflüssig oder nützlich: Hat der Blinddarm eine Funktion?

Die mysteriöse Seitenkrankheit galt über Jahrhunderte als unheilbar und kostete unzählige Leben. Die Menschen starben langsam und elend, meist unter Krämpfen und Schmerzen. Als endlich die Ursache entdeckt war, wurde die Appendektomie allmählich zur Routine. Chirurgen entfernten den Blinddarm über viele Jahre hinweg »mal eben« im Rahmen einer anderen Bauchoperation, ohne dass der Wurmfortsatz überhaupt entzündet war. Nutzlos und gefährlich, so lautete das Urteil. Ist der Appendix tatsächlich überflüssig – oder hat der Blinddarm eine Funktion?

Welche Funktion

In den 1980er Jahren ging ein Ruck durch die moderne Chirurgie. Die Ärzte stoppten ihre routinemäßige Blinddarmentfernungen, weil es eine neue Erkenntnis gab. Nein, bis dato hatte niemand die tatsächliche Funktion des Wurmfortsatzes erkannt, aber es gab immerhin eine Nutzungsidee: Der französische Mediziner Paul Mitrofanoff gab den Impuls, den Appendix als Harnableitungsröhre nach Blasenentfernung zu verwenden: So entstand das sogenannte »Mitrofanoff-Stoma«.

Die Funktion des Blinddarms beim Embryo und Kind

Tatsächlich scheinen Menschen ohne Blinddarm keine Nachteile gegenüber Nicht-Operierten zu haben. Oder ist diese Betrachtungsweise zu oberflächlich, gibt es doch eine verdeckte Funktion? Im ungeborenen Kind ist im Appendix jedenfalls einiges los: Drüsenzellen wandern in die Schleimhaut ein und beginnen mit der Produktion von Peptid-Signalen und Aminen. Es handelt sich wohl um eine Art Organisationsprozess, der das embryonale Wachstum mitsteuert.

Nach der Geburt geht es munter weiter: Das Appendix-Wandgewebe von Kindern und Jugendlichen enthält zahlreiche Lymphzellen, die das Immunsystem unterstützen. Ein bisschen erinnert das an die Mandeln, jene Lymphknotenansammlungen im Rachen, auf die der Mensch aber relativ problemlos verzichten kann.

Der Blinddarm als Reservoir der gesunden Darmflora

Noch eine Überraschung hält der Appendix parat: Amerikanische Forscher entdeckten, dass sich die gesunde Darmflora auch im Blinddarm ansiedelt. Bei schweren Durchfallerkrankungen bleibt sie dort erhalten, während sie im übrigen Darm fast vollständig weggespült wird. Nach der Genesung kann sich das Mikrobiom unter anderem aus dem Wurmfortsatz heraus wieder aufbauen. Und wirklich zeigen Beobachtungen, dass die Rückbesiedlung mit einem intakten Blinddarm zügiger vonstattengeht. Der Blinddarm hat also noch eine Funktion!

Wie wichtig ist ein funktionierender Blinddarm?

Dass der Blinddarm Funktionen im Körper hat und kein nutzloses Relikt der Vergangenheit darstellt, ist die eine Seite der Medaille. Schauen wir uns die andere Seite an: Wie überlebenswichtig ist das so missverstandene Organ für uns?

Tja, die vielen Menschen ohne Blinddarm zeigen deutlich, dass zumindest bei Erwachsenen kaum eine Relevanz besteht. Offensichtlich kann unser Immunsystem das Fehlen des Blinddarms gut kompensieren. Die Peyer-Plaques, Lymphfollikel in der Dünndarmschleimhaut, gehören beispielsweise zu den Strukturen, die ihre Arbeit bei fehlendem Appendix verstärken. Wir kommen gut ohne Blinddarm aus, doch wer ihn noch hat, darf sich vermutlich über kleine Vorteile freuen. Darum versuchen Ärzte heutzutage eher, den Blinddarm zu retten, falls er noch zu retten ist. 

Die erste Blinddarmentfernung - und eine fiktionale

Wann fand die erste dokumentierte Blinddarmentfernung statt? Hier findest du die Antwort!

Im zweiten Teil meines historischen Romans „Herz und Hände“ beschreibe ich eine Blinddarm-Operation unter archaischen Umständen.

Unten kannst du dich auf Spotify ins Hörbuch klicken.

Herz und Hände, Illustration von Silke Bachmann