
Geschichte der Chirurgie: Schädelbohrer und Knochensäger
Festbinden und dann so schnell wie möglich ans Werk: Operationen waren in alten Zeiten, ohne Betäubung und Minimaleingriffe, der reinste Horror. Da es auch an bildgebenden Verfahren mangelte, mussten die „Ärzte“ in der Geschichte der Chirurgie oft aufs Geratewohl vorgehen und fanden nicht immer vor, was sie eigentlich erwarteten. Aus der Antike kennen wir mehr als genug Zeugnisse überstandener Operationen, es gab also durchaus eine gewisse Überlebensquote.

Die alten Ägypter und Inkas gingen schon erstaunlich strukturiert vor, wenn sie Glieder amputierten oder gebrochen Kiefer aneinanderfügten. Zeugnisse aus der Jungsteinzeit, um 10.000 vor Christus, zeigen, dass die Menschheit schon sehr früh mit der Chirurgie begonnen hat. Mehrere hundert Schädel sind von damals erhalten, mit runden Löchern als Zeichen einer sogenannten „Trepanation“ (chirurgische Schädelöffnung). Die Operateure griffen höchstwahrscheinlich zu spitzen Faustkeilen oder Muschelschalen, um ihr Werk zu verrichten. Standen die Patienten dabei unter Drogen oder mussten sie alles bei vollem Bewusstsein ertragen? Man weiß es nicht.
Inhaltsverzeichnis
ToggleDiese vier Bücher zur Geschichte der Medizin sind empfehlenswert
Wer sein Wissen zur Medizingeschichte auf spannende Weise vertiefen möchte, lernt hier 4 empfehlenswerte Bücher zum Thema kennen. Zwei Sachbücher, zwei Romane – und ganz, ganz viele Fakten.


Die Chirurgie-Geschichte als Reihe umwälzender Erfindungen
Zwischen damals und jetzt liegen trotz der erstaunlichen handwerklichen Geschicklichkeit gewaltige Schritte. Heute ist der Patient vor der OP zwar aufgeregt, aber wenn es so weit ist, gleitet er in einen tiefen Schlaf und bekommt überhaupt nichts mit. Alles läuft unter sterilen, kontrollierten Bedingungen ab, jeder Eingriff wird so niedrig wie möglich „dosiert“. Wir schicken winzige Kameras in den Körper und ferngesteuerte Werkzeuge, um gezielt den großen Schnitt zu vermeiden. Der Chirurg weiß vorher ganz genau, was er wo zu tun hat. Ob ihn bei der Schädelöffnung beispielsweise tatsächlich ein Tumor erwartet, wie groß dieser ist und an welcher Stelle dieser genau liegt.

Falls während der OP etwas schiefläuft: Die Überwachungsinstrumente schlagen sofort Alarm und das OP-Team kann direkt reagieren, seine Strategie ändern oder dort regulatorisch eingreifen, wo es hakt. Wahrscheinlich haben „Ärzte“ der Jungsteinzeit oft gar nicht gemerkt, dass der Patient unterwegs bereits gestorben war – und hielten die plötzliche Stille für die übliche Bewusstlosigkeit. Heute tönen an diesem Fall die Geräte und augenblicklich beginnt die Reanimation.

Auch die Reanimation hat übrigens eine lange Geschichte hinter sich, die ihr hier nachlesen könnt. Eng verknüpft mit der Geschichte der Chirurgie ist auch die Entwicklung der Antiseptik und die der Betäubungsmittel. Alles Fortschritte zusammen haben bewirkt, dass wir dem Zeitalter der Horror-Splatter-Operationen zum Glück (!) entkommen sind.
Die Geschichte der Chirurgie im Zeitstrahl
Manche Revolutionen bersten wie in Vulkan, andere laufen über Jahre, Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte ab. Ohne Frage ist auch die Geschichte der Chirurgie revolutionär, sie zog sich über Jahrtausende.
Dies ist die Zeittafel einer spektakulären Entwicklung:
- Chirurgie und magisches Denken (3000 v.Chr. – 500 n. Chr.): Nachgewiesen aus dieser Zeit sind vor allem Trepanationen in Indien und Ägypten. Chirurgische Eingriffe in Weichteile lassen sich über diese langen Zeiträume leider kaum nachvollziehen. Die Schädelöffnungen erfüllten sowohl medizinische als auch rituelle Zwecke. Das magische Denken war noch sehr weit verbreitet.
Was ist das Papyrus Edwin Smith?
Der Edwin-Smith-Papyrus ist ein spannendes Zeugnis altägyptischer Zeit. Auf ihm sind verschiedene Heilverfahren für Wunden verzeichnet, die fast ohne „magische“ Anteile auskommen. Sogar Pulsmessung und Abhören der Herztöne gehören bei schweren Fällen zum Repertoire. Hieran wird deutlich, wie weit entwickelt die altägyptische Medizin bereits war.

- Hippokrates (460 – 370 v. Chr.): Diesen Namen kennt fast jeder! Der griechische Arzt Hippokrates legte die Grundlagen für eine systematische Medizin. Seine Therapien umfassen auch chirurgische Techniken, ebenso wie die erfolgreiche Behandlung von Knochenbrüchen und Luxationen (Verrenkungen der Gelenke).
- Galenos von Pergamon (129 – 216 n. Chr.): Tiefgehende Kenntnisse der Anatomie bilden das Fundament einer sinnvollen Chirurgie. Der Arzt erstellte in antiken Zeiten ein ganzes Kompendium der Heilkunst und Anatomie, das bis ins 17. Jahrhundert hinein vielerorts medizinisch maßgeblich war.
- Islamische Medizin im Mittelalter: Im gar nicht so finsteren Mittelalter florierte die islamische Medizin. Der große Al-Zahrawi (938 – 1013), auch als Albucasis bekannt, verfasste umfassende Werke über die Chirurgie wie den bekannten „Kitab al-Tasrif“. Blasensteine zu entfernen, gehörte offensichtlich zu seinen Routineoperationen.
- Mittelalterliche Barber-Chirurgie: Chirurgie und Medizin gingen in Europa weitgehend getrennte Wege. Reisende Barber übernahmen „einfache“ Operationen wie den Starstich, gewisse Amputation und Zähneziehen. Kam es später zu Komplikationen, waren sie längst über alle Berge.
- Andreas Vesalius (1514 – 1564): Er war der erste „moderne Anatom“ und legte mit seinem Skalpell menschliche Körper Schicht für Schicht frei. So gelang ihm die Darstellung des vollständigen Blutkreislaufs, eine Pioniers-Tat.
- Ambroise Paré (1510 – 1590): Der französische Chirurg hatte ein Augenmerk auf die Wundbehandlung. Statt Wunden äußerst schmerzhaft mit heißem Öl oder Säuren zu verschließen, führte er beispielsweise Ligaturen durch. Dabei band er Blutgefäße mit einem Faden ab.

Geschichte der Chirurgie im 19. Jahrhundert
Ab dem 19. Jahrhundert nahm die Revolution richtig Fahrt auf. Die Geschichte der Chirurgie mündete in das, was wir heute kennen: eine sterile, weitgehend schmerzfreie Chirurgie, die zahlreiche Komplikationen ausschließt oder zumindest sehr viel unwahrscheinlicher macht. Auch hier setzten begabte Mediziner wieder ihre Meilensteine – und Forscher entwickelten erstaunliche Technologien.
- Joseph Lister (1827 – 1912): Der Begründer der antiseptischen Chirurgie führte in den 1860er Jahren die Karbolsäure (Phenol) als desinfizierendes Mittel ein. Er orientierte sich dabei an der brandneuen Keimtheorie von Louis Pasteur. Die Gegenwehr der etablierten Medizin war gewaltig, doch schlussendlich setzt sich (fast) immer die Vernunft durch.
- William Morton (1819 – 1868): Der amerikanische Zahnarzt führte 1846 als Erster eine Operation unter Äther-Betäubung vor. Der ganze Saal staunte, als der Patient bei der Tumorentfernung am Hals friedlich weiterschlief.


Spannender Roman zur Medizin im 19. Jahrhundert
Spannend und lebendig stellt der historische Roman „HERZ und HÄNDE“ die Chirurgie und Medizin der 1860er Jahre dar. Verpackt in eine fesselnde Geschichte erleben Leser und Hörer komplizierte Operationen „live“ mit, ebenso wie die Tricks und Kniffe eines rebellischen Chirurgen, der unfreiwillig vom Knast in den Krieg gerät. Teil I trägt den Untertitel „Das Herz“. Es lohnt sich, nach Fortsetzungen Ausschau zu halten.
Atemberaubende Fortschritte der Chirurgie im 20. Jahrhundert
- Karl Landsteiner (1868 – 1943): Der österreichische Arzt identifizierte im Jahr 1900 die verschiedenen Blutgruppen A, B, AB und 0. Er zeigte auf, dass Bluttransfusionen nur zwischen kompatiblen Blutgruppen sicher sind. 1939/40 entdeckte Landsteiner gemeinsam mit Alexander Wiener den Rhesusfaktor und klärte damit den Grund für unerwartete, schwere Komplikationen auf.
- Alexander Fleming (1881 – 1955): der britische Mediziner und Bakteriologe entdeckte 1928 das Penicillin. Niemand weiß genau, wie viele Leben er damit rettete, aber es müssen unzählige sein. Auch nach Operationen wirkte der neue Stoff bei der Infektionsbekämpfung wahre Wunder.
- Joseph Murray (1919 – 2012): Dieser US-amerikanische Chirurg führte 1964 die erste erfolgreiche Nierentransplantation durch. Noch ein Lebensretter, dessen Werk zum festen Bestand der Medizin geworden ist.
- Minimalinvasive Chirurgie: In den 1980er Jahren begann die Laparoskopie (z.B. Gallenblasenentfernung durch kleine Schnitte) die Chirurgie erneut zu verändern. Was früher große Öffnungen am Körper erforderte, wird heute durch kleinste „Fenster“ erledigt.

Neue Möglichkeiten der Chirurgie im 21. Jahrhundert
Im 21. Jahrhundert öffneten sich die Wunderwelten der robotergestützten Chirurgie, der künstlichen Intelligenz und des 3-D-Drucks. Der erstmals im Jahr 2000 für Operationen zugelassene Da-Vinci-Roboter setzt der Präzision und Minimalinvasion vorläufig die Krone auf. Die erste Gesichtstransplantation gelang 2005, während maßgeschneiderte, gedruckte Implantate den Medizinmarkt stürmen. Was einst ein riskantes Handwerk war, verwandelte sich in hochpräzise Wissenschaft. Was würde Hippokrates beim Anblick eines modernen OP-Saals sagen?
